Die Liebe des Herrn Roth zur Bahn mit Seele

Die Liebe des Herrn Roth zur Bahn mit Seele

Peter Roth, Werkmeister und Werkstättenleiter bei der Wengernalpbahn, kennt jeden Zug, jeden Wagon und jedes Rad so gut, als wäre er mit ihnen verheiratet.

Bahnhof Grindelwald. In wenigen Momenten fährt sie los, die Wengernalpbahn. Sie wird dann kurz pfeifen, so, wie es sich für eine Bahn gehört. Die Fahrgäste, die sie zum ersten Mal auf das weiße Winterparadies Kleine Scheidegg bringt – hauptsächlich Wintersportler mit ihren Ski, Snowboards oder Schlitten –, werden öfter aus dem Fenster blicken als diejenigen, die sie regelmäßig benutzen. Sie wird 25 Minuten brauchen und dabei die Eiger Nordwand passieren. Die Passagiere, die zum ersten Mal in einem ihrer Waggons sitzen, werden sich dadurch so beeindrucken lassen, dass sie vielleicht nicht mal ihre Smartphones aus den Jackentaschen hervorkramen, um Fotos zu machen, sondern einfach nur schauen und staunen.

Wenn man die Eiger Nordwand vor sich sieht, wird einem bewusst, warum die Region Jahr für Jahr hunderttausende Menschen aus allen Ecken der Welt anzieht. Und wenn man, oben auf der Kleinen Scheidegg auf 2.061 Höhenmetern angekommen, aus der Bahn steigt, die Luft so frisch, dass man sie riechen kann, und das Panorama mit seinen Pisten, Gipfeln und unberührten Hängen so atemberaubend, dass all der Stress und die Sorgen des Alltags wie weggeblasen sind, dann weiß man: Man erlebt gerade etwas ganz Besonderes. Wer noch mehr davon will, kann mit der Jungfraubahn noch weiter rauf: Die älteste Zahnradbahn der Welt fährt staunende Gäste seit über 100 Jahren zum Jungfraujoch auf 3454 Metern über dem Meeresspiegel.

Peter Roth, Werkmeister und Werkstättenleiter bei der Wengernalpbahn, kennt jeden Zug, jeden Waggon und jedes Rad so gut, als wäre er mit ihnen verheiratet. Und irgendwie ist er das ja auch. Seit über 40 Jahren steht er im Dienste der Zahnräder, Loks und Wägen, die seit über 100 Jahren die Berge hinauf- und hinunterfahren. Die ersten Jahre saß er als Lokführer der Jungfraubahn ganz vorne in der Fahrkabine: „Damals waren wir die ganze Woche oben einquartiert – das war schlimmer als bei den Schiffsjungen“, erzählt er. Die Jungfraubahn fährt von der Kleinen Scheidegg hinauf zum Jungfraujoch und legt dabei 1.393 Höhenmeter zurück. Wer sie als Lokführer steuert, fährt täglich drei Mal hinauf und hinunter: „Das macht dann fast 9.000 Höhenmeter am Tag, da wird man ganz blöd im Kopf“, erzählt der 61-Jährige. Und lacht.

Letztes Jahr fuhren eine Million Fahrgäste zum Jungfraujoch.

Die Zahnradbahn gibt es seit 1880. Seitdem sie in Betrieb ist, wird sie geliebt. „Letztes Jahr fuhren 1 Million Fahrgäste zum Jungfraujoch,“ berichtet Peter Roth, der nicht immer Lokführer bleiben sollte und 1991 in die Technik wechselte, „ich habe immer gern geschraubt,“ wie er sagt. Als Werkstättenleiter schraubt er heute aber nicht nur. Er überlegt sich, wie man welche Abläufe optimieren könnte, welche Wehwehchen der Zahnräder und Loks wie zu behandeln sind. Er bemüht sich, die beiden Lehrlinge für die Polymechanik zu begeistern und teilt die Schichten seiner 80 Mitarbeiter ein. Er kümmert sich um die Flottenplanung und steht den Behörden als Ansprechperson zur Verfügung. „Das Betätigungsfeld ist riesengroß, es ist kein Tag wie der andere. Wir leben in den Bergen, sind draußen in der Natur. Wenn ich morgens um 6 Uhr die Beine aus dem Bett auf den Boden stelle und mich schon während des Anziehens auf den Tag freue, dann stimmt’s einfach,“ erzählt Peter Roth, der nie in seinem Leben eine Bewerbung geschrieben hatte – „die Jungfraubahnen sind zu mir gekommen – nach meinem Militärdienst haben sie angefragt und seitdem bin ich dabei.“

„Wenn Neuschnee liegt, der alle Geräusche dämpft, hat man das Gefühl, durch Watte zu fahren.“

Hin und wieder, bei krankheitsbedingten Ausfällen oder zu Probefahrtzwecken, sitzt Peter Roth heute noch am Steuer und lenkt die Loks auf die Kleine Scheidegg. „Was ich heute noch vor mir sehe: den unglaublichen Lichtwechsel im Oktober, wenn man nach dem Mittagessen nochmal hochgefahren ist. Den Schattenwurf des Bergahorns und die wunderschönen Bäume. Oder im April, wenn nach einem langen Winter die Pelzanämonen wieder blühen und sich die ersten Murmeltiere zeigen.“ Das absolute Highlight war für ihn allerdings immer die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, in der Grindelwald am stärksten belebt ist und alles leuchtet: „Wenn Neuschnee liegt, der alle Geräusche dämpft, hat man das Gefühl, durch Watte zu fahren. Ich habe dann von der Mittelstation aus dieses Lichtermeer gesehen und mich gefühlt wie ein Flugzeugkapitän, der die Skyline von Grindelwald vor sich hat. Wir haben dann immer im Fahrgastraum das Licht ausgemacht und sind dann im Dunkeln runtergefahren – das war immer was ganz Besonderes“, so Peter Roth.

„Und da wurde mir klar: In Ausnahmesituationen sind wir unheimlich stark.“

Aber es gab auch turbulentere Zeiten: Am 11.November 1996, der Werkstättenleiter erinnert sich noch genau an das Datum, gab es einen starken Sturm. Der Wind hatte eine 45 Tonnen schwere Komposition (mehrere miteinander verbundene einzelne Fahrzeuge) mit 90 Menschen gekippt, zum Glück konnten alle sicher evakuiert werden. „Und dann stand ich da eine halbe Stunde oben im Sturm und fragte mich: Wie stellst du das Ding wieder auf? Es gab keine Straße, über die man mit dem Kran herfahren konnte. Aber mit vereinten Kräften schafften wir es schließlich. Und da wurde mir klar: In Ausnahmesituationen sind wir unheimlich stark. Das hat mich in den 40 Jahren immer wieder fasziniert.“

Das Ding hat eine Seele, da bin ich mir sicher!

Wer sich schon so lange so intensiv mit der Bahn beschäftigt, kann vermutlich gar nicht anders, als eine Beziehung zu ihr aufzubauen: „Das Ding hat eine Seele, da bin ich mir sicher. Warum? Weil Ingenieure es designen, Mechaniker es bauen und andere es betreiben“, so Peter Roth, der sich auch leidenschaftlich mit der Radiästhesie befasst, jener Lehre, die mithilfe von Pendel, Rute und anderen Mitteln die Wirkung von Strahlen auf den Organismus untersucht. Wenn der gebürtige Grindelwalder in Pension geht, wird er sich dem Thema, das für ihn nichts Esoterisches hat, weil er es aus der Perspektive eines Technikers sieht, noch intensiver widmen. Und hin und wieder wird er sicher hinauffahren auf die Kleine Scheidegg oder das Jungfraujoch, um beim Hinunterfahren die Magie zu erleben, an die er sich so gerne erinnert.

Text: Armin Knöbl / friendship.is
Fotos: Florian Lechner / friendship.is
Quelle: bestofthealps.com