Kunst, die weiss vom Himmel fällt

Kunst, die weiss vom Himmel fällt

Das World Snow Festival verwandelt Grindelwald jeden Januar für ein paar Tage in ein Outdoor-Museum.

Er kann leicht und flockig sein, aber auch nass und schwer. In nur wenigen Stunden hüllt er ganze Dörfer und Städte ein und macht sie stumm. Kaum hat er sich hingelegt, löst er sich auch schon wieder langsam auf. Viele beruhigt das quietschende Geräusch, das entsteht, wenn er frisch ist und Schuhe Spuren in ihm hinterlassen. Schnee ist ein großartiges Naturphänomen. Er verzaubert die Welt. Aber er fällt nicht nur fröhlich vom Himmel um dann wieder zu verschwinden. Manchmal bleibt er auch ein wenig länger. Wie beim World Snow Festival, das jeden Jänner einen Teil von Grindelwald für ein paar Tage in ein temporäres Outdoor-Museum verwandelt – seit 34 Jahren.

„Wie eine Familie, nur ohne Streitereien..“

Es ist Tag Vier am World Snow Festival, bei dem sich zehn vierköpfige internationale Teams im Dorfzentrum an Blöcken aus 50 Kubikmeter Schnee abarbeiten: Sie messen, hobeln und feilen. Sie streichen glatt, schauen, beraten sich. Sie cremen sich mit Sonnencreme ein, trinken Tee aus Thermosflaschen und atmen weiße Wolken, wenn sie lachen. Die Sonne scheint, die Temperatur liegt um die Null Grad, zum Glück hat es bisher nicht geregnet. Immer wieder kommen Interessierte vorbei, die den KünstlerInnen dabei zusehen, wie sie um die weiße Masse herumschleichen, mal hier ein wenig abkratzen, mal da mit einer Hobel in den Schnee stechen.

„Wenn man ins Museum geht, sieht man fertige Kunstwerke. Aber hier erlebt man den ganzen kreativen Prozess, der mit dem fertigen Objekt abschließt – vom Anfang bis zum Ende, und das ist faszinierend”, erzählt George Farbotko aus dem Team USA. Seit 1989 kommt er nach Grindelwald, hier fühle er sich wohl. Über die Jahre und Jahrzehnte seien Freundschaften mit den Leuten aus dem Eigerdorf entstanden, die Atmosphäre empfinde er als entspannend und gemütlich – „wie eine Familie, nur ohne die Streitereien“, sagt er und lacht, während seine Frau Janet und Tochter Anna konzentriert die andere Seite des vergänglichen Kunstwerks bearbeiten. Konkurrenzdenken gibt es nicht – und seit diesem Jahr wird auch keine Jury mehr die Kunstwerke bewerten: Das übernehmen einerseits das Publikum und andererseits die Künstler selber, in der Eigenbewertung.

Erinnerungen

Vielleicht wird im Laufe des Tages auch Hans Schlunegger vorbeikommen, um Hallo zu sagen. Der Mann, der sich 22 Jahre lang um die Organisation des Festivals gekümmert hat – von der Sponsorensuche über den Schneetransport bis zur Betreuung der Teams. Heute spaziert er als Besucher über den Baerplatz. Und als Freund: „Einige der Teams wie die USA, Niederlande oder Deutschland waren von Anfang an mit dabei, da sind schon starke Freundschaften entstanden“, so der pensionierte Organisator, der sich gerne an die Fondueabende und Glühweinpartys erinnert, die er jedes Jahr für die KünstlerInnen ausgerichtet hat.

Die Herausforderung besteht darin, eine Idee zu finden, die fließen kann.

Hunderte Figuren hat er im Laufe der Jahrzehnte gesehen („mir waren die am liebsten, bei denen man wusste, was sie darstellen – Gesichter oder Tiere“), er war dabei, als einmal während der Schlusszeremonie eine Skulptur zusammengebrochen ist („der Schnee war zu fein“), oder als der Föhn so stark war, dass es unmöglich war, die Kunstwerke fertigzustellen. „Wenn der Schnee durch Regen schlechter geworden ist oder nicht mehr gefrieren wollte, dann musste improvisiert werden. Das gehört nun mal dazu”, so der Grindelwalder. Oder wie es Karl Chilcott vom schwedischen Team ausdrückt: „Die Herausforderung besteht darin, eine Idee zu finden, die fließen kann.“

Interpretation von Harmonie

Die diesjährige Skulptur des schwedischen Teams, das zum zweiten Mal mit dabei ist, nennt sich „Schneeballspiel“: Sie stellt einen riesengroßen Schneeball dar, der in seine Einzelteile zerfällt – oder sich sammelt: Für die einen wird er so wirken, als wäre er soeben im Begriff zu explodieren, während andere eher den Eindruck haben werden, als wäre er gerade dabei, sich zu vervollständigen. „Wie ein Puls, der sich ausdehnt und wieder zusammenzieht“, beschreibt Karl Chilcott das Konzept hinter dem Werk, das er und sein Team sich zum diesjährigen Thema „Harmonie“ überlegt haben.

Die Herausforderung besteht darin, eine Idee zu finden, die fließen kann.

Einen anderen Zugang zum Thema hat das Team aus den USA: Mit ihrer Skulptur wollen sie den Kreislauf des Lebens spürbar machen. „Das Neue wird alt, das Schwache wird stark, aus Gewöhnlichem erwächst Schönheit. Die Natur ist ständig in Bewegung und Veränderung – und das ist pure Harmonie”, so der Bildhauer aus Illinois, der die Arbeit mit Schnee gerade wegen ihrer Unvorhersehbarkeit so schätzt. „Ich mag das ständige Improvisieren-Müssen. Du hast das fragile Material, das Wetter und vier Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, die in dem Prozess ständig miteinander agieren. Kein Wunder, dass das Endergebnis oft anders aussieht als das, was man ursprünglich geplant hatte”, so der Künstler.

So unvorhersehbar die Ergebnisse auch sein mögen, so konsequent wird doch das World Snow Festival seit mehreren Jahrzehnten veranstaltet: Was 1983 mit einer gigantischen Heidi-Skulptur aus Schnee, gemeißelt von japanischen Künstlern, begann, ist heute zu einem internationalen Event geworden, das Jahr für Jahr Gäste aus allen Teilen der Welt anzieht, die sich an der faszinierenden Flüchtigkeit der Kunstwerke erfreuen. Auch dieses Jahr werden die wunderschön beleuchteten Kunstwerke nach ein paar Tagen zur Unkenntlichkeit geschmolzen sein. Aber das nächste Festival kommt bestimmt. Und seine neuen Organisatoren denken vermutlich heute schon über das Thema des nächsten Jahres nach, während Hans Schlunegger sich darauf freuen kann, dann seine alten Freunde wieder zu sehen.

Text: Martha Miklin / friendship.is
Fotos: Heiko Mandl / friendship.is
Quelle: bestofthealps.com